freitag, 17. april 2020, 7:44

aus den »lehren des gläsernen hauses«, erster band, 1997,
kapitel 39: »mehrere wunder, die der erhaltung des planeten dienten«


unser mittelmäßiger planet litt. die rauchschwaden machten ihn unsichtbar zuweilen, aus den seen dampften die abwässer, die schildkröten hatten längt 5 beine : doch wer kümmerte sich dieser tage schon freiwillig um eine kugel, die immer noch heillos unangekettet im weltraum schwebte? – ganz recht: niemand. – also verfasste ich als zeichen meiner anteilnahme, meines verständnisses für das leid einer traurigen erde (und eines ganzen kosmos, wie ich später begriff) einen philosophischen traktat, aus dem ich einen auszug in freier rede wiedergab, als ich einmal an einer mobilen bühne vorbeikam, die leer war und mich einlud, ihr ein wenig ihrer leere zu nehmen: sie sprach zu mir. sie fragte mich. ich willigte ein. es muss während einer meiner »touren« durch die unteren karpaten gewesen sein – eine reise im zeichen der selbstentleerung –, als ich das folgende zum besten gab:

+++

»sind denn [ __ pause __ ], ja sind denn, frage ich ohne scheu, meine überlegungen nur ausdruck einer ohnmacht ?, verharre ich denn in diesen gedanken wie in watte gepackt, hinter glas gerahmt, ja regelrecht unfähig ? – ich: ein vernunftbegabtes wesen: nur ein schieres ding im MUSEUM DES LEBENS ?

zur beantwortung dieser fragen wird uns eine erzählung dienen, die auch darüber hinaus alles wesentliche enthält. – sie geht so:

ich bewegte mich. dann hielt ich inne, und sah auf meine spannung. der funke im raum erhellte für sekunden den prozess: in meinem denken verfing sich, jetzt sichtbar, ein käuel im anderen. ich war verquickt mit unterschiedlichen hindernissen, mit objekten, die unausgesetzt die erkenntnis zu verhindern schienen: sie näherten sich wie in einem 2-dimensionalen jump-and-run-spiel: ein champignon, eine teetasse, ein käsestück, ein muffin, eine fiese queen, eine cremetube, ein gesicht: ich vermischte mich mit diesen ›gegenständen‹. ich spürte ihre präsenz (feindliche übernahme?).

es erschien das: ∫
dann das: µ

ich formte aus einer fixen überzeugung, die ich noch mein eigen nannte, meinen körper zu einem mittelgroßen X (ein ausdruck meines widerwillens). die dinge, die zeichen, sie waren nicht gnädig – zuerst: sie kamen weiterhin sozusagen über mich. ich überprüfte meine haltung: war ich überhaupt ein solist? in diesem konzert DES DASEINS ? eine unverwüstliche egozentrikerin in einem spiel (einer prüfung?)? – ich wollte an der grenze wandeln, nun hatte ich den salat: diese grenze hatte verlockend gewirkt, von weitem. aus büchern. ja in der theorie. und nun ?! wie stand ich n-u-n zu diesem sprung (war er einer?), der mich an eine schwelle geschleudert hatte (es schien so), wie verhielt ich mich nun eigentlich: im ›augenblick‹?

ich sah muster an ›uns‹ vorüberziehen (ich hatte gewisse neue anteile an mir vorläufig akzeptiert): freie muster in bewegung, funkelnd im raum. – ich wollte meinen blick richten, die spannung halten, ein bild erzwingen, das bliebe, das ich hätte ruhend stellen können, fixieren, um später noch einmal darauf zurückzukommen ... allein: es war sinnlos. es ging nicht.

mutig klopfte ich an den stamm eines baumes, in dessen innerem ich das chiffrierte absolute vermutete.
die rinde war allerdings doch keine tür. – verdammter fehler! fähla! – weiter!

schon verhaltener riss ich einer bergfee den hut vom kopf und entblößte (ich hatte da so eine vorahnung gehabt...) auf diese weise ein ei. sie balancierte es am schädel. (wieso?) – es entspann sich ein dialog:

»wie lebst du mit dem ei?«
»WER SAGT DIR DASS WIR UNS DUZEN?«

das gespräch ward jäh abgewürgt, als ich begriff, dass die bergfee mich nicht leiden konnte. – ich tat einen hechtsprung ins gebüsch, wo mich eine kröte erwartete (war dies ein abgekartetes spiel?), deren visage ich zu kennen meinte : ja-ja !, genau !, es war meine volkschullehrerin, auf deren weisheit ich schon damals gesetzt hatte. ich begrüßte sie mit einem himmelschreienden NEON-ORANGE, das ich ihr vors gesicht setzte: da hast du’s, meine liebe alte freundin! – sie verstand mein geschenk ganz recht im sinne des alten, in vielen teilen der welt schon vergessenen begrüßungsritus (farbaustausch: gabe, gegengabe; sitztanz, offenbarung der ›highlights‹ aus dem gedankenprotokoll der letzten 3-5 tage, usw. usf.). klar also, dass ich ihrerseits zumindest ein mittleres wiesengrün erwartete, oder etwas nah am FLIEDER. indes & oje!: sie war nicht, wer sie war. sie trug nur ein gesicht. ich erschauderte ob dieser verwirrenden situation. die kröte kicherte böse : –ooh! – OH-WARUM-NUR war sie eine erscheinung der anderen dimension ? OH-WIESO-NUR war ich der täuschung erlegen, ich hätte ein vertrautes gesicht gesehen, wo doch in wahrheit nur wieder das unerreichbar fremde mit mir gemeinsam im busch war?

es ist schwer, die eigene lebenslage zu akzeptieren, wenn man sich nicht auskennt.

von daher war ich sicherlich, ja kurz und gut: unzufrieden mit mir.

ich verhielt mich darum teenagerhaft und trotzte vor mich hin. ich sagte: ach du schon wieder: irgendjemand, den ich nicht kenne und die mir angst machen will, HA?!?

das hatte gesessen.

sekunden verstrichen.

plötzlich bemerkte ich, dass links von mir eine sanduhr im raum schwebte, die unbarmherzig die ablaufende zeit anzuzeigen schien (ja?): nein! – die sanduhr war ihrer funktion enthoben worden (später erfuhr ich: sie war in rente) und hatte in dieser ihrer neuen stellung eine freude daran gefunden, sie selbst zu sein. eine freude, der sie sich lange nicht als würdig begreifen wollte (all das erzählte sie mir mehrere jahre später): ich gab ihr den handkuss. sie errötete. wir liebten uns als ein spontanes zeichen einer übereinkunft, die wir beide in ihren ausmaßen nicht verstanden. – so vergingen 30 minuten.

(woher ich wusste, wie viel zeit verging? – ich wusste nicht, woher.)«

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an dieser stelle, erinnere ich mich, wurde ich von der bühne geschupst: eine deutsche rockband machte sich zum soundcheck bereit, ihre gänzlich untätowierten körper (post-rock?) in die kegel des sonnenlichts stemmend. die bühne entschuldigte sich bei mir für diesen rüpelhaften, unerwarteten ›move‹. ich verstand, dass sie mich aus existentieller einsamkeit spontan engagiert hatte, und aus unzufriedenheit mit deutschen rockbands. sie brauchte einmal pause, ferien von der ewigen wiederkehr des gleichen, die ihr leben war: aufbau, pause, soundcheck, pause, auftritt, abbau, usw.: nächstes dorf. – ach diese heinis!, dachte ich, als die wachen deutschen die ersten akkorde anschlugen. eine musik ohne mitleid, bar jeder vernunft. eine weile noch lauschte ich nicht ihr, sondern dem wimmern der bühne, die unter den schweren bässen der deutschen litt: dann aber musste ich mich lossagen ––– und schritt weit in die karpaten aus.