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ilse

ilse, die fliegende händlerin,
die ex-angestellte, geflohen aus den bürokammern.
ilse, die gute mutter und der guter vater
und die mütter und die väter -- 
und alles in einem und alles in eins! /

einmal fiel ich von oben in ilses arme (weil ich mich nicht gut genug festgehalten hatte an der reckstange am spielplatz), und ich fiel in ein merkwürdig riechendes wollkleid aus maschen, maschen, maschen: ich glaubte fest, sie wären zahllos! ilse jedenfalls wuselte im auffangen schon ihren kopf in mein haar, und ich hörte nur noch ein kurzes rufen von ferne her, bis ich ganz eingelullt war in ihren gesang, denn sie sang laut, und fest verankert mit stimme, bauch und beinen in diesem boden aus rindenmulch: hin- und her, nichts ist schwer, alles ist leicht, bis: es reicht. das war ilse in reimen.

ich drehte mich noch oft zu ihr um, während ich wegging: sie stand da, eingewurzelt, als würde sie bis zum nächsten tag hier auf mich warten, so lange, bis wir gemeinsam alles von vorne noch einmal spielen, alles wiederholen würden: den tag, an dem wir mit blättern geschmückt den hügel bestiegen, den wir „wüste“ nannten: dort würden wir, nahmen wir uns vor, ein lager bauen, ein fort, einen platz, der fortan uns gehören sollte, den wir aber nicht militärisch verteidigen, nein!, in den wir einladen wollten: für den fall, dass einmal, einmal nur!, ein grüppchen vorbeikommen und uns gesellschaft leisten würde: ja würde!, ja wenn!, ja denn!: und dann richtig!

ilse trug ihr ehrenamt mit stolz: mit sechzehn hatte sie damit begonnen, selbst noch ein teenager, und in den dreißig jahren, die seither vergangen waren, war das von-kindern-lernen immer noch ihr elexier, wie sie sagte, ihr motiv und motto und ihrer tage sonnenaufgang pur. ilse redete so. sie mochte sonnen und sprach oft von ihnen, meist im plural. sie stickte sie in symbolen auf ihre weiten jacken und mäntel, darunter trug sie gelbe, orange, rote t-shirts, die ausgewaschen waren und kleine löcher hatten. ilse trug achselhaar. und sie kochte obstsorten ein, die ich nicht kannte, sprach mit anderen am telefon eine sprache, die ich nicht verstand.

einmal verkündete ilse, sie wolle einen mann heiraten, weil sie ihn liebe und ein bisschen auch deswegen, weil er sonst in ein land zurückkehren müsse, in dem die armut herrsche wie ein schicksal, das lange nicht aufhört und drohe nicht aufzuhören für alle zeit. ich nickte. sie kniff mich in die schulter, wir lachten. ob es denn ein fest geben werde, eine hochzeit, wollte ich wissen, und ilse ging zum kleiderschrank und nahm ein beiges leinenkleid auf einem schweren holzbügel heraus. noch nie hatte ich so ein hochzeitskleid gesehen, ilse wusste es. ich betastete den stoff. er war hart. dieses kleid, sagte sie, hätte sie selbst genäht, das ganze letzte wochenende lang. ich wusste nichts zu sagen, es gefiel mir nicht. na gut, sagte ilse, jetzt machen wir aber weiter!, und mit diesem satz kehrten wir zurück in die welt der spiele, in die wir gehörten, aus der wir gekommen waren, und in die ein kurzes wort führen konnte wie ein magischer spruch, oder ein schnipsen oder ein tanz. ilse jedenfalls beherrschte alle diese methoden.