Alfredo Stahl: Callboy mit Charakter! / Folge eins: ich bin ein vielfältig interessierter Mensch!

„Er nimmt Anabolika, Testosteron, seit elf Jahren. Und Viagra, er spritzt sich Androskat, er schluckt Cialis, beides Mittel, die den Rückfluss des Blutes aus dem erigierten Penis verhindern. Er muss es tun, schließlich lässt er sich dafür bezahlen, dass er bereit ist, wenn er bereit sein soll.“

Alfredo sagt man nach, er sei mitunter ein wenig von sich eingenommen. Ja, er verbringe geradezu Stunden vor dem Spiegel und wolle stets adrett aussehen, mit der Betonung auf „stets“, also auch in den privatesten aller Stunden. Alfredos Mutter war da anderer Meinung: er sei eben gepflegt! In der Nachbarschaft war die Mär entstanden, Alfredo gebe sich unlauteren Geschäften hin, in der Stadt. Die Mutter hatte das immerzu verneint. Nein, wenn er doch Bankier sei, wenn er doch in einer Bank arbeite, in der Innenstadt, wenn die doch mit Marmor ausgelegt sei und da ständig Vernissagen stattfänden. Das mit den Vernissagen war nicht zu bestreiten: auch Alfredo hatte einen Sinn für zarte Aquarelle. Sowieso hatten es ihm die Winterlandschaften angetan. Die Stille ist ja auch etwas, das man suchen muss, gab er im Bekanntenkreis zum Besten, worauf er ehrliche Anerkennung erntete. Immerhin ging dieser Satz über seine Alltagsbefindlichkeit hinaus. Warum so vielen Menschen denn dieser Sinn fehle, dieser Sinn fürs Detail, war Alfredo dann gefragt worden, und er konnte nur lachen. Nun ja, setzte er an, die haben doch bloß keine Zeit! Und siehe da: die Runde runzelte nachdenklich die Stirn: irgendwie hatte Alfredo recht. Und: auch wir sind nur mehr ein Schatten unsrer selbst. Aber nein, warf der Kellner ein, wenn wir alle noch einen heben, kann’s kein morgen geben! Das war treffend.


„Alfredo setzt sich eine Androskatspritze, in den Penis, er schluckt Cialis und Viagra, eine Stunde bevor er mit einem Kunden zusammenkommt, zwei Stunden lang hält das vor, zehn Kunden am Tag hat er schon geschafft, er hatte durchgearbeitet, den Tag, die Nacht, zehnmal Androskat, Cialis und Viagra, er will in Zukunft nicht mehr als sechs Kunden am Tag ‚machen’.“
Alfredo hatte ein bewegtes Interesse an Zeitgeschichte. Ja, er beschäftigte sich mit allerlei Geschichte, meist mit den ganz großen Figuren. Und den bösen. Dass das Böse manchmal ganz schön banal ist, ja, auch das machte dessen Reiz aus. Also sammelte Alfredo vergilbte Geschichtsbücher, ordnete sie in seinem, eigens dafür angeschafften, Bücherregal, gab sich damit aber nicht zufrieden. Kulturfernsehen, sooft es ging; das Wochenende-Spezial in der linken Tageszeitung. Wenn er etwas nicht verstand, machte er sich eine Notiz. Die schlug er dann irgendwo nach. Das war wichtig: Alfredo wollte einfach nicht auslernen.
„Perfekt, Oberfläche. Alfredo nennt es ein Aussteigermodell, Callboy und Pornodarsteller geworden zu sein. Ein individuelles, autonomes, alternatives Modell. Er hatte immer Angst vor Körperkontakten gehabt, wegen der Bibel und der komischen Pubertät. Und jetzt ist es sein Beruf, die intimsten Körperkontakte vorzuführen. Was Künstlerisches? Ein Zelebrieren, wie der Tanz? Sexualtherapie? Irgendwie verrückt.“