Damenwahl / Überleben in wohl-definierten Systemen / Lampe I & II ("Die uneingelösten Versprechen der Aufklärung")


Das moderne Leben ist eine große Kaserne. Darin sieht alles und jede/r gleich aus. Uniformen und Roboter, allerorten. „Roboter“ - das heißt: Arbeit. Zum Beispiel auch noch im Polnischen, da heißt „robota“: „Arbeit“. Und auf österreichischen Baustellen höre man oft Leute „roboti, roboti!“ rufen, habe ich mir sagen lassen. Und ich sage: der Satz - „Die Börsenmaklerin arbeitet geradezu roboterhaft“ - enthält eine Verdopplung, einen Pleonasmus, wie die Rhetorik sagt. Roboterhaft arbeiten, das ist wie: einen weißen Schimmel reiten, oder: einen runden Kreis malen, usw. usf.
Aufklärung ist dann, wenn jemand ein Licht anzündet. / Es gab einen Werbespot im Fernsehen, der ging so: Ein Büro; es ist Büroschluss, die Leute gehen nach hause. Wir sehen: da ist einer, der trägt zwar auch die Uniform dieser modernen Arbeitswelt, sieht aber insgeheim nicht aus wie die andern; er ist clever, er hat ein gewisses Etwas. (Das Kameraauge im Werbespot macht das unmissverständlich klar; es ist so sensibel wie der sog. Elefant im Porzellanladen; die Werbebilder inszenieren keinen einzigen Widerspruch...) Eigentlich wollen der clevere Kollege und seine weniger cleveren KollegInnen in den Aufzug steigen, und endlich runter damit: in die sog. Freizeit, vielleicht in die Oper, oder bloß auf die Couch; hm... vielleicht schieb’ ich noch irgendwas in die Mikrowelle, denkt die eine... Jedenfalls: der eine steigt doch nicht in den Aufzug, geht vielmehr noch mal zurück in sein Büro; weil: ein Büro hat er, ganz für sich allein; eine Zelle mit Fenster; die Monaden haben im Bürogebäude nämlich genau ein Fenster; und dieses Fenster wird noch wichtig werden... Eigentlich hat das Büro ja nur noch Augen: es ist eine transparente Oberfläche.
Auch im Radio erzählt man sich von Büros, von den „neuen Arbeitswelten“. Ich höre also, dass microsoft will, dass ich soviel Zeit wie nur irgend möglich im Büro verbringe, mit Arbeit oder nicht; mit der Arbeit zum Beispiel an meinem personal computer, der doch eigentlich so flexibel sein müsste – wie nur ich selber, und den ich doch durchaus von meinem persönlichen Zuhause aus bedienen könnte. Ich müsste doch gar nicht im Büro - persönlich - vorsprechen. Aber: dort habe ich einen Garten, ja, einen microsoft-Garten! Nicht nur eine Kantine, ein Fitnessstudio, nein: einen Garten! Auch wir modernen Menschen wissen, was wir uns in einem abgeschmackten Sprichwort erhalten haben:
in einem Garten ging das Paradies verloren, in einem Garten wird es wiedergefunden!
Zurück zum Fernsehspot: also der eine, der clevere Kollege, geht zurück, in sein Büro, und – es ist Abend, es ist dunkel – er macht seine Schreibtischlampe an, und erst dann verlässt er das Büro wieder, geht zum Aufzug, nachhause: Couch, Oper, Mirkowelle, Beischlaf. - Er hat ein Licht angezündet!!! Nächster Schuss: wir sehen ein echt großes Auto und wir wissen: da muss jemand Besonderer drin sitzen, und: siehe da: der trägt Anzug, hat einen Chauffeur, einen Assistenten auch. Und er fährt am Bürogebäude - und wir wissen: an seinem Bürogebäude - vorbei, und er sieht von außen, dass da in einem einzigen Büro noch Licht brennt (das Fenster ist eben durchlässig), obwohl doch Büroschluss ist; und er will vom Assistenten wissen, wer denn noch arbeite, in diesem Büro, in dem noch Licht brennt, und der Assistent, der nennt einen Namen; und der Mann im Anzug, der... wird dem cleveren Kollegen später wahrscheinlich ... sagen wir mal ... keine Ahnung. Jedenfalls weiß dieser Mann im Anzug jetzt: da ist der eine, Kollege X, bei dem brennt noch Licht... / Denn mit seinem taghellen Verstand hat (sich) unser Kollege ein Licht angezündet. Soweit der Spot.
Reden wir über Menschen in Bürogebäuden. Dirk Baecker sagt: „Eine der erstaunlichsten Fähigkeiten der Menschen liegt im Umgang mit schlecht-definierten Systemen. Scheinen sie gegenüber wohl-definierten Systemen vieles falsch zu machen, so wachsen sie, ohne recht zu wissen wie, über sich selbst hinaus, wenn sie als Teil eines schlecht-definierten Systems agieren.“
[1] Nun: Warum eigentlich? Baecker sagt, beim sog. „Agieren“ in schlecht-definierten Systemen würden Automatismen ablaufen und Informationen würden darin „unbewusst“ verarbeitet. Und er vergleicht diese automatischen Abläufe mit dem Fahrradfahren oder mit einem Tausendfüßler, der nur solange läuft, solange er nicht überlegen muss, welcher Fuß den nächsten Schritt machen soll (Er hat immerhin 1000!). Die Teile (bzw. Füße) eines schlecht-definierten Systems gehen mit diesem System also quasi-automatisch um. Weil sie im Umgang mit wohl-definierten Systemen dauernd Fehler produzieren - sie wähnen sich sicher, verlassen sich auf Wahrscheinlichkeiten, Vergleiche und Ähnlichkeiten mit bereits bekannten Systemen... – weil sie also ständig Fehler produzieren, schaffen sie es sehr schnell, ein wohl- in ein schlecht-definiertes System umzuwandeln; in ein schlecht-definiertes System, in dem sie aber – paradoxerweise – überlebensfähiger sind. Nun gut. Was wollen wir aus unserem schnöden Systemgequatsche lernen? (Denn: Ich weiß doch, dass wir lernen wollen... Ich weiß doch auch, das die Aufklärung eine sagenhafte Lerngeschichte ist, eine never ending story... also: was wollen wir lernen?) Unser Kollege von vorhin hat sein Licht strategisch angezündet; das „wohl-definierte“ Bürogebäude hat diesen Fehler bzw. diesen Widerspruch des Lichtanzündens (jenseits Büroschluss) eigens, aus sich heraus, produziert. Die Strategie unseres Kollegen, sein Täuschungsmanöver, macht aus einem wohl- ein schlecht-definiertes System; was wiederum dazu führen kann, dass die einzelnen Teile dieses Systems über sich hinaus wachsen.... ohne zu wissen wie. Der (so hergestellte) Widerspruch – ich möchte ihn als „Widerspruch Lampe I“ bezeichnen – wird, auch das wissen wir insgeheim, andere Widersprüche produzieren.... Auch andere werden ihr Licht anzünden; so schnell wird das kein Ende nehmen...
Um zum Thema zu kommen: Die Aufklärung – diese süffisante Erzählung – hat unserem Kollegen vor allem eines versprochen: dass er an der Tristesse seiner Freizeitgestaltung, an seiner transparenten Bürooberfläche, an seiner ganzen - gebenedeiten - Unmündigkeit selbst Schuld ist. „Selbstverschuldet“, sagt Kant. / Die „Versprechen der Aufklärung“... Ein Versprechen ist in die Zukunft gesprochen, zum Beispiel in meine Zukunft; verspricht zum Beispiel mir meine Karriere. Dagegen ist die Schuld, die selbstverschuldete Schuld immer (schon) da; immer schon begangen, immer schon im Hinterkopf (und zwar ohne recht zu wissen, wie: die da hin kam...). Unser Kollege weiß, dass er schuldig ist; und er weiß, dass er selbst schuld ist, an der Schuld. Seine Schuld ist ihm versprochen worden:
er wird sich stets darauf berufen können!
Versprochen wird darüber hinaus: ein wohl-definiertes System (to come), das nach dem Ideal funktioniert, jede/r könne sich selbst aus dem eigenen schlecht-definierten System raus-ziehen. Nun haben wir aber gehört, dass die Fehler ständig in den wohl-definierten Systemen passieren: also vermuten wir, dass der alte Affe Dialektik dahintersteckt... und machen einen Absatz.

Sich aus dem Sumpf raus-ziehen. / Das ist das Tolle der Aufklärung: dass man sich mit der eigenen Hand aus dem eigenen Sumpf rausziehen kann; dass das, was gedacht wird, aus dem selben Hirn in die selbe Hand wandern kann... Das ist nun eigentlich eine Till Eulenspiegel, oder eine Baron Münchhausen-Geschichte: das kann nur der Tollpatsch oder der nicht ganz helle Baron: sich selbst am Schopf packen und aus dem Sumpf ziehen. Es handelt sich um die sog. „Münchhausen-Methode“: „Ein anderes Mal wollte ich über einen Morast setzen [...] und fiel nicht weit vom anderen Ufer bis an den Hals in den Morast. Hier hätte ich unfehlbar umkommen müssen, wenn nicht die Stärke meines eigenen Armes mich an meinem eigenen Haarzopfe, samt dem Pferde, welches ich fest zwischen meine Knie schloss, wieder herausgezogen hätte.“
[2] Und so gibt es Leute, die sagen: ein Baron Münchhausen - oder ein Till Eulenspiegel - wären die eigentlichen Helden der Aufklärung, nicht der Stratege Odysseus; und nicht unser Kollege aus dem Büro. Dass man sich aufklärt, dass man ein Licht anzündet: das ist die Philosophie aus dem Wetterbericht, und die hat Tradition. Da gibt’s Licht und Schatten, Wolken, Lichtungen, Holzwege usw. / Kants Diener heißt „Lampe“: Liebe Freundinnen und Freunde, wir wissen nicht nur insgeheim: das kann kein Zufall sein... Und dass Kant an Lampe scheitert, noch viel weniger. Irgendetwas, ein Betrug, eine Verstimmung, ein Streit mit Lampe... treibt Kant dazu, die Verzweiflungstat zu tun: er schreibt es auf! „Nicht an Lampe denken!“ – Wir und Freud wissen: so wird das nichts werden..., da wird ein Widerspruch bleiben („Widerspruch Lampe II“). / Zurück aber zur Denke aus dem Wetterbericht, die immer das ganze Licht dorthin bringen will, wo das ganze Dunkel ist, immer Höhlenausgänge graben und immer aus dem Kellerloch rauskriechen will. Wenn stimmt, dass die sog. guten, wohl-definierten Systeme immer zwangsläufig die sog. schlechten, schlecht-definierten Systeme hervorbringen, dann nimmt es nicht wunder, dass wir auch eine andere, eine dunkle Philosophie kennen. Eine Philosophie aus dem Boudoir, wie’s bei de Sade heißt. Eine Philosophie aus dem Ankleidezimmer also! Die machen die Damen. Die mach’ ich nächstes Mal. VERSPROCHEN.

[1] Dirk Baecker: Postheroisches Management. Ein Vademecum.
[2] Gottfried August Bürger: Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande. Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen, wie er dieselben bei der Flasche im Zirkel seiner Freunde selbst zu erzählen pflegt.