mittwoch, 8. april 2020, 8:14

aus den »lehren des gläsernen hauses«, erster band, 1997


ich war von schwäche beherrscht. ich knickte ein.
es war der sommer 1985.

die meisten von uns lagen flach. grund war eine allgemeine katerstimmung, befördert durch insektenschwärme, die zu jeder tages- und nachtstunde über unsere dächer zogen, laut fiepsend, piepsend, singend, jaulend – ein höllenlärm.

wir hatten insekten unterschätzt.
wir hatten mit ihnen gelebt, ohne rücksicht auf sie.
(wir kannten sie nicht.)
jetzt beschämte uns unsere ignoranz – jetzt, da wir den kontakt zu diesen tieren suchten, vergebens.

1985 war – als »kalender-«, als »meldejahr« – regelrecht überschattet von nachrichtentexten über insekten: schlage ich heute in den chroniken der 1980er jahre nach, abgelegt in orangen ringbuchordnern mit speckigen kanten, so lese ich schon in den inhaltsübersichten: »1985 – ein jahr der horden«.

wer den horden-begriff damals prägte, war irgendwann nicht mehr nachzuvollziehen: er hatte sich durchgesetzt. man wachte morgens auf, zog den lärmschutz vom schädel – und vernahm: »die horden«. man lugte aus den augen, den löchern, aus den anderen, seelenloseren öffnungen – und sah: »die horden«.

so kam es.

ich ließ mich von der schwäche leiten.
grundfalsch aber, diese verfassung in der hauptsache den horden zuzuschreiben.
war es selbstverschuldete – ja – unmündigkeit?
ich war unschlüssig.

ich blieb es.

das »privatjahr«, auch »stimmungsjahr« oder »mondeinflussjahr« bzw. »atmosphärenjahr« genannt, dieses »privatjahr« 1985 also ließ sich nicht einfach unter den horden-begriff subsummieren. hier war ehrlichkeit geboten, und sie zwang uns zur reflexion. manche begannen tagebuch zu schreiben. andere griffen auf ihre therapie-rationen zurück. es war schwer durchzuhalten. (denn nein: nicht nur mir ging es so, auch wenn ich, im gefängnis, das ich war, das ich bin, mich selbst als hauptdarsteller wahrnahm: viele andere spielten in diesem stück!)

ich knüpfte an. ich nahm den faden auf. ich zehrte vom »erinnerungsjahr« 1984. 1983 kam mir in den sinn: ein »heikles jahr«. ich zweifelte nicht an unseren zeitrechnungen. im gegenteil: nie erschienen sie mir so sinnvoll und gewitzt, reichhaltig, vernünftig, detailliert wie jetzt. oder hatte ich das schon einmal so empfunden? im »jahr der kassenschlager« 1974 vielleicht? oder im »jahr der vernunftgründe«, wie es das erste halbjahr des jahres 1956 gewesen war, bis man es – qua einstimmiger beschlussfassung – in das »jahr der unwegbarkeiten« umbenannte? – ich wusste es nicht.

1985 erhielt jedenfalls in der rückschau einige markante beinamen, die ich restlos auf mich bezog, aus eitelkeit und einer nicht stillzustellenden tränendrüse: »jahr des ohrensausens«, »jahr der fliegenfalle«, »jahr des verfehlt statuierten exempels«, »jahr der selbstaufgabe«.

ein schmerzensjahr.