sonntag, 12. april 2020, 10:28

aus den »lehren des gläsernen hauses«, erster band, 1997


ich hatte keine angst vor tiefe.
ich sah an mir bis in den kohlenkeller hinab.

mich deprimierte nicht das endlose des himmels:
ich war selbst weit und akzeptierte weite.

ich suchte den ausgleich. ich übte.
ich war elektrisch. ich war – +, + –.

alte tiere (es waren gepanzerte allesfresser) reinigten meine gläserne haut: nimmermüde. – es war eine symbiose alten stils, wie sie die alte biologie kennt. aus geschichten von wurzeln und pilzen. von putzerfischen. so wurden wir zwar nicht eins, lebten doch aber in friedlicher koexistenz. – wären sie nicht so viele gewesen, die asselartigen, ich hätte ihnen namen gegeben. wären sie nicht so stumm gewesen, ich hätte mit ihnen geredet. ihr fressen aber, begriff ich, war ihre sprache. (und darum so paradox eigensinnig, weltverloren.) ich sah auf diese sprache wie auf kunst, die hieroglyphen adaptiert: sie als zeichen einzigartig macht, verdreht, als schrift verunmöglicht: so, dass niemand sie lesen kann; so, dass zwar noch etwas da ist, vom verständlichen, aber dieser rest zu gering ist, um etwas zu sagen, zu bedeuten ...
irgendetwas an dieser sprache, glaubte ich, ähnelte meiner. vielleicht aber war es nur der hunger, der uns verband: als zeichen unseres lebendigseins, das freilich so grundverschieden war, dass ganze bibliotheken über jahrtausende hinweg es streng voneinander schieden: das leben meiner spezies, und das leben der krebstiere. man verknüpfte sie nicht. (sollte das meine aufgabe in diesem leben sein?, fragte ich.) – ich fand die krebse kryptisch, und einfach zugleich. aus dieser ambivalenz, schien mir, spross ihr charme. und aus einem staunen darüber begann ich – gedankenlos – sie zu fotografieren, aus hundert winkeln: als ich die abzüge aus dem fixierbad fischte, im roten licht der dunkelkammer sah, was ich getan hatte, ergriff mich die scham. – später warf ich die bilder ins feuer.

all das war lange her.

all das stammte aus einer zeit, in der unser verhältnis zu den organismen fast zärtlich war. / das war gelogen. / als unser verhältnis zu ihnen aus mehr bestand als aus hirnloser unterwerfung. / waren wir kultivierter damals?, oder bildeten wir uns auch das nur ein? / aus einer zeit schließlich, in der die, die nicht-wir waren, noch ein geheimnis hatten.
und wir keine anstalten machten, es ihnen zu entreißen.