sonntag, 11. oktober 2020, 16:32

aus den »lehren des gläsernen hauses«, erster band, 1997


ich war einmal ein nebenschauplatz, ein oft gescholtener austragungsort: für komplizierte menschliche gefühle. ich war ein durchgang, ein hinterzimmer, ein dachboden, ein foyer. ich war all das. und ich war ein anderes. ich wechselte, ich ertrug die vielfalt, litt heimlich unter der menschen leidenschaft und zorn: man schmuste auf mir und spuckte auf mich, man trat die kaugummis flach und legte die werke der heiligen aus – bis man verschwand von mir – und ich zurückblieb als reißbrett, als leerer raum in der welt. für meine »tätigkeit« erhielt ich einen spärlichen lohn (ausgezahlt in ölfässern), den ich zu zwei dritteln der wohlfahrt spendete. mit dem anderen drittel, meinten meine feinde, machte ich mir ein »schönes leben«. nun ja, sie lagen so falsch nicht: ich lebte es. ich lebte es aus.

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wenige jahre später änderte ich diese existenz und ritt seither jeden morgen auf wechselnden ponys zu einer schule, die mir die weberei beibrachte, und den buchdruck. ich war ein strenger schüler, niemals ließ ich meine lehrer gewähren. das brachte mir fans ein, und ein hartes leben in nähe der lehrerzimmer. ich lernte mit händen, ich lernte dazu.

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meine mutter war zu jener zeit die allwissende erzählerin in meinem leben: sie schickte mir videobotschaften aus ihren ländereien, ließ mir die bänder per eilbotin zustellen. zusammengenommen ergaben diese »messages« ein verzerrtes bild: ich schälte ratschläge und kritik aus diesen botschaften, und modenschauen. ich sah eine frau, die ihre tiere liebte wie sich selbst, und eine dame, die weite transparente blusen trug. sie zeigte sich mir im whirlpool. und in ihrer bibliothek. sie erklärte mir in hüfthosen den vietnamkrieg, und das spitzenklöppeln. ich nahm all das zur kenntnis – und formte das für mich wesentliche aus dieser sozialen konstruktion:

ich begann ein verhältnis mit der eilbotin.

es war die arbeitskleidung der botin, die mich von beginn an in einen wirren bann zog: ihr spitzer hut kam mir frivol vor (ich kannte die sitten und gebräuche des eilbotinnenwesens nicht!), ihr schnürzeug um die taille versprach ein mittelschweres geheimnis, das tüllknäuel hätte ich ihr eigenhändig von den schenkeln gerissen – hätte nicht ein fingerschnipsen ihrer selbst all das gewerke fallen machen, als ich einmal meinen mut zusammennahm: und ihr einen coupe dänemark spendierte. kurz danach lagen wir flach.

noch heute denke ich, trotz aller schmerzen, gerne zurück an die flanken der eilbotin, und an ihre technik. sie war eine anerkannte spielerin. schleiferin. gymnastin. postmodernistin. gespräche mit ihr pflegten in einer fragenkaskade zu enden, deren gewicht schwer wog: man krümmte sich im allgemeinen unter diesen gesprächsenden, man knirschte. ich übersprang deshalb oft dieses ende. und legte mit ihr von vorne los. hieran klammern sich meine erinnerungen.

meiner mutter, die all das mitnichten vorausgesehen haben konnte, überbrachte ich eines nachmittags einen blumenstrauß – als dank für einen zufall, für einen wink: für mein glück, das – ich ahnte es – nur auf zeit bestand. mutter hockte hart und eisern vor mir, vor meinem strauß: sie verneinte die blumen, verneinte diese verbindung und entwickelte stante pede eine unschöne eifersucht: ihre videolieferungen stellte sie ein. ich versank in trauer, mit gummistiefeln stand ich im schleim meiner weggewischten wünsche: ich weinte ihr nach: der zustimmung meiner mutter, einem gutheißen; rang um eine widersprüchliche liebe, die mich einmal getragen hatte, die mich, ablehnend zwar, immer noch trug: ich zitterte, ich gab das backgammonspiel auf; eine shisha-sucht bemächtigte sich meiner geschrumpften seele: etwas hielt mich, knebelte mich, ich sponn mich ein in ein winseln, das mich fortan kleidete: auf diese weise, den fakten nach nackt, verfasste ich einen gedichtzyklus, dessen wert ich ganz richtig einschätzte: er war wertlos.

ich sah die eilbotin nicht wieder.

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ich rüstete ab. ich verkam. ich trug dosenweise puder auf, um meine ungestalt zu kaschieren. ich lag als verwirkte fläche da, als leinwand in falten: ich zeichnete das bild der eilbotin in mein eigenes gesicht. ––– ich wagte nicht, ihre geschichte zu erzählen.